Vollgas oder Angst? – Insist

Vollgas oder Angst? – Insist

Vollgas oder Angst? – Insist 150 150 Philipp Hadorn

«Unsere Zukunft steht auf dem Spiel», «Klimanotstand», «Veränderung jetzt» – Transparente und Sprechchöre mit diesen Botschaften begrüssten uns Mitglieder des nationalen Parlaments während den vergangenen Monaten an den Sitzungstagen.

Die «Klimajugend» führte uns jeden Morgen vor Augen, dass sie Angst vor der Zukunft hat. Nicht etwa eine Angst vor Ungewissem. Nein, wissenschaftliche Erkenntnisse gepaart mit den eigenen Erfahrungen machen es deutlich: Der Klimawandel führt zu enormen Problemen, zerstört Lebensgrundlagen und ist «hausgemacht». 

Ungebremster Hunger

Obwohl unser unstillbarer Hunger nach Waren, Mobilität und Erlebnissen faktisch einen Raubbau an natürlichen Ressourcen bedeutet und Gleichgewichte innert weniger Jahrzehnte aus der Balance wirft, ist ein Umdenken in Wirtschaft und Politik kaum wahrnehmbar. Die Angst vor Komfortverlust bremst die Innovation aus. 

Erholungsphasen werden weder Mensch, Tier noch Pflanzen gewährt. Rückstände unseres Lebenswandels hinterlassen Spuren, deren erste lebensgefährdenden Folgen trotz Offensichtlichkeit und wissenschaftlichen Nachweisen kaum ernst genommen werden.

Die Gretchenfrage 

Und plötzlich beginnt ein 15-jähriges Mädchen aus Schweden einen persönlichen Streik. Einmal pro Woche will sie auf ihr Anliegen des Klimawandels aufmerksam machen. Greta Thunberg erzielt Wirkung: Tausende Schülerinnen und Schüler gehen jeden Freitag auf Strassen und Plätze, Städte rufen den Klimanotstand aus, die Öffentlichkeit diskutiert Massnahmen und Parlamente streiten um wirkungsvolle Regulierungen. 

Ratgeber gesucht 

Das Sprichwort sagt: «Angst ist ein schlechter Ratgeber.» Stimmt. Wenn sich der Schüler vor den Prüfungen fürchtet, die Schwangere vom Gedanken des Kindsverlusts geplagt wird, der Teenager sich vor dem Entscheid der Berufswahl zu verstecken sucht, die Verliebte vor der Verbindlichkeit flüchtet, der Angestellte das Risiko des Versagens mit Passivität quittiert, die Unternehmerin aus Zaudern die Innovation erstickt, Eltern der Diskussion mit ihren Kindern weichen, die Politikerin traumatisiert entscheidungslahm wird, drohender Liebesentzug oder «shit storms» in Lethargie versetzen – ja, dann ist es zutreffend: Angst ist ein schlechter Ratgeber. 

Angst kann einerseits verhindern, dass Lösungen gefunden, Fehler korrigiert und Weichen mutig gestellt wer- den. Ein gesunder Respekt vor Entscheidungen kann allerdings auch vor Leichtsinn bewahren. Angst kann andererseits aber aufwecken, Kräfte für Veränderungen freisetzen und Hoffnung Raum geben. Kurzfristige Angst, ein Schock, kann dazu führen, dass Veränderungen angegangen werden. 

Aus Gnade 

Die Gewissheit einer soliden Annahme kann die lähmende Macht der Angst brechen. Fehlentscheidungen, Verantwortung und Versagen erhalten einen ganz anderen Stellenwert. Die vorbehaltlose Annahme durch Jesus Christus ist mir persönlich eine Ermutigung, mich gestaltender Verantwortung zu stellen. 

Mein Büro ziert seit Ostern dieses Jahres eine Wandbemalung, die mich Tag für Tag ermutigt, schönen, bedroh- lichen und beelendenden Tatsachen «in die Augen» zu sehen: «sola gratia: ora et labora». «Allein aus Gnade» darf ich «beten und arbeiten». 

Und aus dieser Haltung erlebe ich die Gestaltung meiner Aktivitäten plötzlich als Chance ungeahnter Möglichkeiten – ohne Angst, mit Vollgas, denn die Zukunft ist erneuerbar und es gibt auch ein Leben vor dem Tod, in das jeder Mensch berufen wurde. 

Als Christ kenne ich Zielverfehlungen und weiss damit umzugehen: Erlebte Vergebung ist heilsam, entzieht der Angst den Boden und gibt Mut, den Versuch zu wagen, das möglichst Richtige zu tun. Ja, wenn Glaube und Nachfolge Befreiung und Freisetzung bewirken, ist die Angst vom Aussterben bedroht…, und die Vielfalt der Geistesfrüchte wird fast «neophytisch» Fülle und Ernten auslösen. Ein Lichtblick in das Paradies? 

Philipp Hadorn, 50 j., ist SP-Nationalrat, Zentralsekretär der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV, Präsident vom Blauen Kreuz Schweiz, hat drei erwachsene Söhne und lebt mit seiner Frau in Gerlafingen SO, wo er sich in der evangelisch-methodistischen Kirche engagiert.

DIESER ARTIKEL ERSCHIEN IM SEPTEMBER 2019 IM MAGAZIN INSIST