Sinnvoll oder unmenschlich? – Idea Spektrum

Sinnvoll oder unmenschlich? – Idea Spektrum

Sinnvoll oder unmenschlich? – Idea Spektrum 715 358 Philipp Hadorn

Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit Asylbewerbern gemacht?

Maja Ingold: Als Vorsteherin des Sozialdepartements in Winterthur habe ich das Dossier Beschäftigungsprogramme und Unterbringung für Asylsuchende betreut. Eigentlich war mir klar, dass diese Menschen etwas machen möchten, doch sie durften nicht arbeiten. Wenn wir sie beschäftigen konnten, hatten sie einen persönlichen Gewinn, auch wenn sie nachher wieder gehen mussten. Persönlich habe ich gute Erfahrungen gemacht mit vielen kooperativen Asylsuchenden, die dankbar waren für unsere Angebote.

Philipp Hadorn: Ich habe manche positive Erfahrung gemacht. Anfangs der 90er-Jahre durfte ich in Olten schon ein Asylantenheim der EMK mit bis zu 16 Leuten ehrenamtlich leiten. Emanuel Ranjit aus Sri Lanka wurde mir ein guter Freund. Er hat heute den Schweizer Pass, und seine Familie konnte nachziehen. Mit Emanuel und andern Tamilen pflege ich noch heute enge Kontakte.

Nicht nur am Stammtisch herrscht Unbehagen gegenüber der heutigen Asylpolitik. Können Sie es verstehen?

Maja Ingold: Nein, das kann ich oft nicht verstehen. In der Heftigkeit, wie ich die Kritik vielfach höre, muss ich Partei ergreifen für die Asylsuchenden. Da läuft einiges ab an Populismus. Es hat angefangen mit den «Scheininvaliden», es ging weiter mit den «Sozialschmarotzern» und zuletzt kamen die «kriminellen Asylsuchenden». Alle Asylsuchenden werden unter Generalverdacht gestellt. Das muss ich extrem verurteilen.

Philipp Hadorn: Das Unbehagen hat wohl damit zu tun, dass man selber Angst hat vor Arbeitsplatzverlust, dass man gewisse Herausforderungen im gesellschaftlichen Leben sieht und eine Verschlechterung der Sozialwerke befürchtet. Daraus entwickelt man ein Feindbild gegenüber Leuten, die auch daran teilhaben möchten. Ich kann nachvollziehen, dass dies Unbehagen auslöst. Gleichzeitig arbeitet man aber mit Skandaleffekten, womit man die Unzufriedenheit schürt. Man spricht zum Beispiel stets über 1400 Tage Verfahrensdauer und nicht über die kleinere Zahl in Jahren. Ein Skandal ist zuerst einmal, dass Menschen auf der Flucht sind.

Frau Ingold, warum braucht es Verschärfungen in unserm
Asylrecht?

Maja Ingold: Zuerst möchte ich mich gegen den Begriff «Verschärfung» wehren. Wir müssen einfach Lösungen suchen für die Probleme im Asylwesen. Ein wesentlicher Punkt ist die Beschleunigung der Verfahren, so dass schneller klar wird, welches die wirklichen Flüchtlinge und welches Wirtschaftsimmigranten sind. Ich verstehe diese Immigranten, denn wir sind ein reiches Land und ziehen deshalb solche Leute an. Trotzdem können wir nicht alle bei uns aufnehmen. Die wirklichen Flüchtlinge müssen schneller Bescheid bekommen, dass sie hier bleiben können und dann auch rasch integriert werden. Wir müssen auch zentrale Asylzentren bestimmen können, denn in den betroffenen Gemeinden ist der Widerstand meist gross. Der Bund muss dazu die Kompetenz bekommen. Wir brauchen dringend auch Beschäftigungsprogramme. Diese Verbesserung des Asylsystems ist dringend. Sonst stärken wir nur die Gegnerschaft, und wir schüren die allgemeine Fremdenfeindlichkeit weiter.

Herr Hadorn, warum halten Sie diese Verschärfungen oder
«Lösungen», wie Frau Ingold meint, für unhaltbar?

Philipp Hadorn: Die Frage ist, ob diese Revision wirklich Lösungen bringt. Ein grosser Nachteil ist sicher der Verzicht auf das Botschaftsverfahren. Das betrifft vielfach Frauen und Kinder, die nicht einfach in ein anderes Land ausreisen können. Es ist eine dramatische Einschränkung, wenn solche Personen auf keiner Botschaft mehr ein Asylgesuch stellen können. Wollen wir denn das kriminelle Schleppertum fördern? Es gibt ein Problem mit renitenten Asylbewerbern. Die Führungen der Asylzentren sind wirklich gefordert. Doch wenn man gewisse Personen einfach ohne sauberes Verfahren in ein Renitentenzentrum abschieben kann, kann das sehr willkürlich sein. Man sollte solche Leute in den Kantonen eher in Wohnungen und in einer gewissen Distanz zueinander unterbringen. Da haben wir in unserm Kanton gute Erfahrungen gemacht. Dann kommt die Fristengeschichte. Die Rechtsfrist von dreis-sig auf zehn Tage zu verkürzen, bringt für das ganze Verfahren wirklich wenig. Das macht es faktisch fast unmöglich, Rechtsmittel zu ergreifen. Wenn wir daran denken, dass wir für die erste Phase des Verfahrens neun Monate brauchen, macht diese Verkürzung herzlich wenig aus. In der ersten Phase soll man beschleunigen und dazu braucht es mehr Personal bei den zuständigen Behörden. Das bringt viel mehr.

Maja Ingold: Hinter all diesen Argumenten steckt eine bestimmte Färbung. Den Wegfall des Botschaftsverfahrens sehe ich anders. Die Anerkennung des Botschaftsasyls beträgt viereinhalb Prozent. Das heisst, die sehr grosse Mehrheit der Gesuchsteller ist politisch nicht wirklich bedroht. Das Botschaftsverfahren führt zu einem unglaublichen Sog, weil wir das einzige Land sind, das so etwas überhaupt kennt. Ich glaube es Bundesrätin Sommaruga, dass der Mittelweg, den sie nun anstrebt, sinnvoll ist. Das Botschaftsverfahren soll abgeschafft werden, doch man soll humanitäre Visa bekommen können. Die Flüchtlingskonvention wird damit auf jeden Fall eingehalten. Wir sollten die Sicht auf den praktikablen Kompromissweg richten und nicht auf einzelne Ausnahmen.

Philipp Hadorn: Es geht nicht darum, ob man Frau Sommaruga traut oder nicht, sondern darum, dass problematische Instrumente geschaffen werden. Wenn man das Instrument des Botschaftsverfahrens ausschliesst, kann das ein Akt der Unmenschlichkeit sein.

Herr Hadorn, die durch Personen im Asylbereich begangenen Straftaten haben von 2010 bis 2012 um 117 Prozent zugenommen. Wie kann diese Entwicklung gebremst werden?

Philipp Hadorn: Wenn man von 117 Prozent Zunahme spricht, muss man auch schauen, von welcher Grundlage man ausgeht im Vergleich zur gesamten Kriminalität. Nichtsdestotrotz: Da haben wir ein Problem. Aus eigener Erfahrung mit jungen Tamilen kann ich nur betonen, dass wir den Asylbewerbern eine Beschäftigung ermöglichen müssen. Die heutigen langen Verfahren ohne Beschäftigungsmöglichkeit fördern die Gefahr, dass die Betroffenen in die Kriminalität abdriften. In den Asylzentren darf man durchaus auch entsprechende Massnahmen ergreifen, um die Sicherheit der Anwohner zu gewährleisten. Noch zu den Verfahren: Wir haben viele Asylsuchende mit Aussicht auf einen positiven Entscheid, doch da wird nichts unternommen, damit es nachher schneller geht. Wenn man ihnen den positiven Entscheid rascher eröffnet, können auch die Integrationsmassnahmen schneller greifen.

Maja Ingold: Absolut einverstanden. Diese Erfahrung habe ich auch in Winterthur gemacht. Wenn wir die Asylbewerber beschäftigen können, wird die Kriminalität sinken. Die Beschleunigung der Verfahren ist ja das Hauptziel der Gesetzesrevision. Wenn die Beschleunigung gelingt, braucht es auch weniger Beschäftigung. Die Begründung von Philipp spricht eigentlich dafür, dass man das Asylgesetz in dieser Richtung voranstösst.

Die Zahl der Asylbewerber ist in den letzten beiden Jahren von 15 567 auf 28 631 angestiegen. Kaum ein anderes Land in Europa sieht sich mit so vielen Asylbewerbern konfrontiert. Wie kommt das?

Maja Ingold: Wir gelten einfach als Insel der Glückseligen. Je reicher wird sind und je mehr Wohlstand wir haben, desto mehr Sog gibt es natürlich von Asylsuchenden und Immigranten. Sie suchen ihr Glück, sie suchen Arbeit und sie möchten mehr finanzielle Mittel für ihre Familien. Wir erzeugen auch Neid, rundherum. Der Zustrom von solchen Menschen ist der Preis unseres Wohlstands – das müssen wir akzeptieren und wir müssen anständig darauf reagieren.

Philipp Hadorn: In Bezug zur Einwohnerzahl haben wir im europäischen Vergleich einen grossen Zustrom von Asylsuchenden, das ist unbestritten. Andere, viel ärmere Länder jedoch, die näher bei den Herkunftsländern liegen, nehmen vergleichsweise viel mehr von diesen Menschen auf. In Afrika gibt es Länder, die von Flüchtlingen effektiv fast überschwemmt werden. Sie müssen ganz wenig mit ganz vielen Leuten teilen. Wir hingegen nehmen gerade mal 37 Syrer von einer Million, die auf der Flucht sind, «edelmütig» auf.

Wie werten Sie die Asylproblematik, gerade als Christ?

Philipp Hadorn: «Ich war Fremdling, und wie bist du mir begegnet?» Diese Frage stellt Jesus, nicht als Drohung, sondern als Einladung. Und dieser Frage möchte ich mich stellen. Es ist nicht gleichgültig, wie ich als Christ Menschen in Not begegne. Jesus lehrt uns, wir sollten diese Menschen so behandeln, wie wir ihn behandeln würden.

Maja Ingold: Ich denke an das Liebesgebot, an die Gastfreundschaft gegenüber Fremden, wie sie in der Bibel gepflegt wird, ich denke an den barmherzigen Samariter. Beim neuen Gesetz heisst das für mich, dass wir Lösungen nicht verhindern wollen, die in der Umsetzung zielgerichtet und ethisch ausbalanciert sind.

Jesus sprach sich klar für die Schwachen aus. Oft sind Asyl­bewerber aber starke junge Männer.

Philipp Hadorn: Ich weiss von den Tamilen sehr gut, wie das läuft. Da wurde in den Familien oft Geld gesammelt, damit wenigstens einer dem Krieg entfliehen konnte und dann einmal Geld zurückschicken kann. Und da wurde dann derjenige ausgewählt, der am ehesten ex-treme Fluchtsituationen überstehen konnte. Darum kommen oft kräftige Leute und nicht unbedingt Leute mit Rollator. Aber diese Leute können dann einmal mithelfen, die Situation vor Ort in ihren Familien zu verbessern, und daran muss uns ja allen liegen.

Im Alten Testament wurde oftmals vor fremden Einflüssen gewarnt.

Maja Ingold: Wir sind jetzt in unserer globalisierten Welt in einer andern historischen Situation. Die Relation zwischen eigenen und fremden Einflüssen kann man trotzdem reflektieren, und darauf müssen wir als Christen eine Antwort finden. Im Alten Testament wurde der Fremde oft auch als Gast empfangen und behandelt.

Philipp Hadorn: Jeder Mensch, auch der Fremde, ist von Gott geschaffen und hat darum Respekt und Anerkennung verdient. Nicht vergessen dürfen wir aber auch, dass im Neuen Testament die Christen den Auftrag bekommen, in andere Länder zu gehen und das Evangelium zu verkünden. Hier finden wir den Ansatz, dass wir auf Fremde zugehen dürfen, von Fremden lernen dürfen und im Fremden auch Christus sehen dürfen.

Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund, die Caritas, das HEKS und andere kirchliche Werke lehnen die Revision ab. Entfremden sich Kirche und Politik in asylpolitischen und überhaupt in sozialen Fragen immer mehr?

Philipp Hadorn: Es ist doch ein hochaktuelles politisches Thema, wie wir mit Fremden in unserm Land umgehen. Hier nimmt die Kirche Partei, und sie tut es biblisch begründet. Die Kirchen engagieren sich stark im Asylwesen und kennen sich in diesem Thema sehr wohl aus. Das Kirchenasyl hat eine alte Tradition, immer fussend auf dem, was uns Jesus gelehrt hat. Und von daher freut mich das starke Bekenntnis der Kirche in dieser Frage.

Maja Ingold: Ich glaube auch, dass sich die Kirche politisch einmischen soll. Die Kirche engagiert sich im Asylbereich konkret und kann sich deshalb einer solchen politischen Frage nicht einfach enthalten. Doch hier müsste man vielleicht die kritische Frage stellen, ob die Kirche wirklich zur Kenntnis nimmt, dass die Zahl der Asylbewerber so stark zugenommen hat und dass über 80 Prozent nicht politisch Verfolgte sind, sondern allein aus wirtschaftlichen Gründen Asyl suchen. Ich nehme die Parteinahme der Kirche mit Verständnis zur Kenntnis, doch als Politiker müssen wir noch konsequenter den mehrheitsfähigen Kompromisslösungen zustimmen.

Philipp Hadorn: Ich möchte ergänzen, dass die zitierten Werke neben der praktischen Erfahrung auch Studien und Forschungen zu dieser Frage gemacht haben und sich in einer langen Tradition damit auseinandersetzen. Wenn sie zu diesem Schluss kommen, darf man ihnen nicht einfach vorwerfen, sie würden sich emotional um kurzfristige Schmerzlinderung kümmern.

Herr Hadorn, welches werden die schlimmsten Folgen sein, wenn die Gesetzesrevision angenommen wird?

Philipp Hadorn: Dann können Menschen in extremer Not am Ort kein Asylgesuch mehr stellen. Schwache Frauen und Kinder werden weiterhin verelenden und Kriegswirren ausgesetzt sein. Damit werden wir zu Mittätern, in bestimmten Fällen sogar zu Mittötern.

Und wenn die Vorlage abgelehnt wird, Frau Ingold?

Maja Ingold: Dann können die langwierigen Prozesse im Asylverfahren nicht beschleunigt werden. Seit vielen, vielen Jahren wird das doch gefordert.

Welche Asylpolitik ist den christlichen Grundwerten und der humanitären Tradition unseres Landes angemessen?

Maja Ingold: Eine Asylpolitik, die sich immer wieder an unsern christlichen Leitplanken misst. Eine Asylpolitik, die den Fremden auch als Gast sieht. Eine Asylpolitik, die dem wirklich Schwachen hilft.

Philipp Hadorn: Einem Menschen in Not so begegnen, als würden wir Christus begegnen. Und dabei daran denken, dass Einheimische und Fremde, die schon bei uns wohnen, auch Mitmenschen sind.

Was soll die Revision des Asylgesetzes?

Die dringliche Revision des Asylgesetzes kommt am 9. Juni vors Volk. Sie war Ende September 2012 vom Parlament per sofort in Kraft gesetzt worden. Die Jungen Grünen ergriffen zusammen mit andern linken, kirchlichen und asylrechtlichen Organisationen das Referendum und sammelten gut 63 000 Unterschriften. Die wichtigsten Punkte der Revision:

  • Keine Möglichkeit mehr, auf Schweizer Botschaften im Ausland ein Asylgesuch einzureichen.
  • Kriegsdienstverweigerer und Deserteure gelten nicht mehr als
    Flüchtlinge.
  • Bund kann neu eigene Bauten für maximal drei Jahre als Asylunterkunft nutzen, ohne bei Gemeinden oder Kantonen eine Bewilligung einzu­holen.
  • Bund kann spezielle Zentren für renitente Asylbewerber errichten und so die Kantone entlasten.
  • Möglichkeit, neue Verfahrensabläufe zu testen und damit die Verfahren zu beschleunigen. Gesuche sollen künftig nach einem genauen Fahrplan behandelt werden.

Der Nationalrat hiess die Revision mit 122 zu 49 Stimmen gut, der
Ständerat mit 36 zu 9. Alle bürgerlichen Parteien befürworten die Vorlage, inklusive EDU und EVP, Linke und Grüne lehnen sie ab. Nein sagen auch die Landeskirchen, Caritas, HEKS und andere kirchliche Werke.

Zu den Personen

Maja Ingold, 65, verheiratet, drei erwachsene Kinder, wohnhaft in Winterthur. Ursprünglich Lehrerin. Von 2002 bis 2010 Stadträtin in Winterthur, seit 2010 Nationalrätin der EVP. Stiftungsrätin von «Brot für alle», Vizepräsidentin von Vogelschutz Schweiz. Kulturelle Mandate in Winterthur. Mitglied der evangelischen Landeskirche.
Philipp Hadorn, 46, verheiratet, drei junge erwachsene Söhne, wohnhaft in Gerlafingen SO. Kaufmännische und juristische Ausbildung. Zentralsekretär der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV, Nationalrat der SP seit 2011. Diverse gewerkschaftliche, umweltpolitische und kirchliche Funktionen. Mitglied der Evangelisch-methodistischen Kirche.

DIESER ARTIKEL ERSCHIEN AM 15. MAI 2013 IM IDEA SPEKTRUM SCHWEIZ